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Marzabotto – schon wieder vergessen?

Die österreichische Erinnerungskultur ist an sich nicht besonders wohwollend mit den Opfern des Zweiten Weltkriegs umgegangen. Während in jedem niederösterreichischen Kaff etwa die armen Soldaten von Wehrmacht und Waffen SS betrauert werden, sind die Opfer nicht einmal existent. Am Ulrichsberg in Kärnten wird darüber geredet, dass das „Leid, welches der gefallene SS-Mann und der gefallene Wehrmachtsangehörige mit seinem Tod verursacht, ist immer das Gleiche“ (so auf der Gedenktafel). Über das Leid, das die SS-Männer und Wehrmachtsangehörigen verursacht haben, wird kein Wort verloren. Dieses Leid ist unaussprechlich groß.

Marzabotto ist eine Kommune in den Apenninen, jene massive Bergkette, die die Emilia-Romagna von der Toskana trennt. In den letzten Kriegsmonaten, also im Herbst/Winter ’44 bis ’45 verlief dort die sogenannte Gotenlinie, die keinem anderen Zweck diente, als den Vormarsch der Alliierten aufzuhalten. Der Krieg war, aus deutscher Sicht, schon längst verloren. Die Militäroperation diente nur noch dem Hinhalten. Die Emilia-Romagna und die Toskana sind sehr linke Flecken Italiens (wie viele andere Regionen und Städte Oberitaliens auch). Als Nebenbemerkung sei erwähnt, dass es ein Treppenwitz der Geschichte ist, dass Mussolini just dort, nämlich in Predappio, geboren wurde, was in der Emilia-Romagna sehr nahe der Toskana und gleich bei den Apenninen, liegt. Obwohl Mussolini etwa versuchte, die nahegelegne Stadt Forlí in eine faschistische Vorzeigestadt umzubauen, waren es genau diese Städte (und ländlichen Regionen) der Emilia-Romagna und der Toskana, die aktiv Widerstand leisteten. Gegen die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten. Heute wird die Gedenkkultur von dieser antifaschistischen Grundhaltung bestimmt. Partisan_innenhuldigungen finden sich in jedem kleinen Ort. Als besonderes Beispiel sei der Dom von Modena genannt, auf dessen Außenfassade die Namen und Bilder der Partisan_innen, die in und um Modena gewirkt haben, zu sehen sind.

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Zurück zu Marzabotto. Dort wirkte die Partisan_innengruppe Stella Rossa. Angeführt wurde sie von Mario Musolesi, genannt Lupo (Wolf). Die Partisan_innen versuchten die Deutschen am Vormarsch zu hindern und strategisch wichtige Berggipfel zu besetzen, bis die Alliierten kamen, die kurz vor den Apenninen standen. Der Monte Sole bei Marzabotto hatte hier eine besonders wichtige Bedeutung, da man von ihm weit in die Emila-Romagna und in die Toskana schauen kann. Die Partisan_innen wurden von der Bevökerung unterstützt, wie eine Zeitzeugin berichtet (Original in Italienisch, deutsche Übersetzung):

Seit Januar 1944 waren im gesamten hochgelegenen Gebiet dieser zwei Pfarreien [Anmk.: San Martino und Casaglia di Caprara; zu Marzabotto gehörend] die so genannten ‘Rebellen’, die Partisanen, aufgetaucht. Diese wurden immer zahlreicher unter Mario Musolesi ‘Lupo’, dem Befehlshaber der Brigade ‘Roter Stern’. Wir sagen diese Jungen von weitem und abends vorbeigehen. Am Anfang vermieden sie selbst, sich der Bevölkerung zu zeigen. Nach und nach wurden sie zahlreicher, und wir hatten Gelegenheit, Gruppen von ihnen in vielen Häusern zu treffen, weil sie in Heuschobern und Ställen provisorisch unterkamen. Die Bauern gaben ihnen zu essen, und man merkte, dass ihre Organisation immer besser wurde. Ich kann sagen, dass drei würdige Priester, die zu unserer kleinen Kapelle von Cerpiano kamen, um die Messe zu lesen (und die alle barbarisch von den Deutschen umgebracht wurden), sich von vornherein um die Unterstützung dieser jungen Leute bemüht haben. Sie waren überzeugt, dass es ihre Pflicht war, ihnen auf jede Art und Weise zu helfen, trotz der Drohungen und Warnungen, die jeder von ihnen erhielt.

Am Montag, den 29. September 1944, in der Früh fielen die deutschen Soldaten also in Marzabotto ein. Diese gehörten der 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ an. Vom 29. September bis zum 5. Oktober ermordeten sie allein in Marzabotto über 770 Menschen. Andere Quellen sprechen sogar von über 1800 Toten. Innerhalb weniger Tage hat die SS ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht.

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49 Menschen (20 Kinder, 27 Frauen, 2 invalide, alte Männer) wurden in den Kellern einer Kapelle eingeschlossen. Dann warfen SS-Soldaten Handgranaten. Nebenan aßen sie im Haus des Scharfrichters, spielten Musik und versteuten alle Lebensmittel, die sie nicht selbst essen können. Nach 28 Stunden wurde die Tür geöffnet und die Überlebenden erschossen. Ein Holzschild wurde aufgehängt: „Das ist das Schicksal aller, die Partisanen begünstigen“. Musolesi selbst starb schon diesem ersten Tag in Marzabotto.

In Caprara wurden 55 Menschen in einen Raum gesperrt. Wieder warfen SS-Soldaten Handgranaten. Eine Frau und ein Kind konnten sich durch den Sprung aus dem Fenster retten. Alle anderen wurden ermordet. Eine Zeitzeugin berichtet: „Vielleicht hätte jemand überlebt, aber die deutsche Grausamkeit hat ihre Feinheit: das Gebäude wurde angezündet, so dass all die armen Leute verbrannten.“

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In der Kirche von Casaglia hatten Menschen Schutz gesucht. Sie wurden vor der Kirche mit Benzin übergossen und angezündet. Dabei mussten die Väter zusehen, wie Frauen und Kinder verbrannten. In der Familie Luccarini wurden bei diesem Massaker eine Frau und ihre sieben Kinder ermordet.

Die meisten Opfer gab es an diesem nahegelegenen Friedhof von Casaglia. Eine der wenigen Überlebenden berichtet:

Da kommen die gefürchteten Deutschen: Sie kommen in die Kirche hinein und befahlen allen hinauszugehen, um sie in Richtung Friedhof einzureihen. Eine arme, an den Beinen gelähmte Frau ist dabei, Nanni Vittoria, die versucht, sich sitzend oder an einem Stuhl haltend zu bewegen. Die Deutschen wollen sie zwingen, ihren Halt los zu lassen und als sie feststellten, dass das nicht möglich ist, erschießen sie sie in der Kirche vor den Augen aller.

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Am Friedhof werden 84 Menschen ermordet. Sie SS-Männer zielten dabei sehr präzise nach unten, um auch die Kinder zu erwischen. Das ist heute noch an den Einschusslöchern der Kreuze an den Gräbern zu sehen. Die SS kam später noch zurück auf der Suche an Überlebenden.

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Aber wer noch am Leben war, stellte sich tot. Ein neun Monate alter Säugling, Laffi Giorgio, war am Leben geblieben, während die Mutter und neun Mitglieder seiner Familie gestorben waren. Das Kind war auf den Boden gefallen. Man hat gesehen, wie es unter den Toten auf den Beinchen und Ärmchen über den Boden gekrochen ist, da es noch nicht laufen konnte. Es hat stark geregnet und das arme Kind ist nach einigen Stunden, die es ununterbrochen schreiend verbracht hat, aus Hunger und Kälte gestorben.

Zwischen diesen Massakern werden immer wieder Gruppen von 10 oder 20 Menschen erschossen. Alle, die den Nazis in diesen Tagen in Marzabotto begegnen, überleben dies nicht. Die Partisan_innengruppe Stella Rossa ist zerschlagen. Der Krieg in den Apenninen dauert noch bis Ende April ’45. Das Massaker von Marzabotto ist nicht das einzige Kriegsverbrechen gegen die italienischen Bevölkerung und die Partisan_innen. Insgesamt werden circa 10.000 Zivilist_innen und 40.000 Partisan_innen zwischen Sommer 1943 und dem Frühjahr 1945 von den Nazis ermordet.

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Und die Täter?

Für die Massaker in Marzabotto wurde SS-Sturmbannführer Walter Reder, zusammen mit Max Simon als Haupttäter vor Gericht, 1951 in Bologna zu lebenslänglicher Haft verurteilt. 1985 wurde Reder begnadigt. Der SS-Offizier wurde 1915 in Mähren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte, geboren. Deswegen sah sich das offizielle Österreich und allen voran die FPÖ und die Kronen Zeitung besonders verpflichtet, auf die Freilassung Reders zu pochen. Ein Jahr vor seiner Entlassung bekundete er seine Reue, was er nach seiner Freilassung wiederrief. Das hinderte das offizielle Österreich nicht daran, den „Kriegsheimkehrer“ zu bejubeln. Der damalige FPÖ-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager begrüßte Reder mit Handschlag. Mittlerweile bedauert Frischenschlager das, wie er in diesem sehr lesenswerten Interview mit dem Gedenkdienst ausdrückt: http://www.gedenkdienst.at/index.php?id=535 . Reder stirbt 1991 in Wien. Simon, in Breslau geboren, wird in Padua zum Tode verurteilt, aber schon 1954 begnadigt. 1961 stirbt er in Deutschland. Erst 2007 wird weiteren (noch lebenden) SS-Männern in La Spezia, Ligurien, der Prozess gemacht. Zehn Offiziere werden verurteilt: Paul Albers, Josef Baumann, Max Roithmeier, Adolf Schneider, Max Schneider, Kurt Spieler, Heinz Fritz Träger, Georg Wache, Helmut Wulf und Hubert Bichler. Weder die deutsche noch, im Fall von Bichler, die österreichische Justitz fanden es Wert, die Verurteilten an Italien auszuliefern. Unbehelligt konnten sie ihren Lebensabend fristen. Bichler verbrachte diesen in Hopfgarten in Tirol. Lokale antifaschistische Gruppen machten auf den Verbrecher gegen die Menschlichkeit im beschaulichen Hall aufmerksam. Doch nichts passierte. Weder Politik, noch Justiz, noch die Medien trommelten gegen Bichler in dem Maße, wie sie sich für Reder eingesetzt hatten. Er durfte in Freiheit und ohne für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden zu sein 2009 in Hopfgarten sterben. Der Ort seines Verbrechens, Marzabotto, hingegen muss nach wie vor jeden Tag mit den Konsequenzen des Massakers leben. Zeitzeug_innen erzählen im Sacrario, wo die Namen aller Opfer aufgelistet und an andere Orte von Kriegsverbrechen erinnert wird, von den Geschehnissen.

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Am Wanderweg zu Orten des Massakers liegt auch die Scuola di Pace di Monte Sole, die Friedensschule, die das Zusammenkommen von jungen Menschen im Sinne der internationalen Verständigung fördert. Die Opfer und ihre Nachkommen müssen und mussten sich mit dem schlimmsten Kriegsverbrechen der Nazis in Westeuropa auseinandersetzen. Die Täter und ihre Nachkommen nicht. Bis heute hat sich das offizielle Österreich nie bei der Gemeinde Marzabotto entschuldigt. Bis heute hat kein Bundespräsident und kein Bundeskanzler Marzabotto und das Sacrario oder die Orte Casaglia und Caprara sowie den Friedhof besucht.

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«È questo il fiore del partigiano,
morto per la libertà!»

(Alle Fotos privat/Nutzung auf Anfrage)

Links und Literaturtipps:

Auflistung über die Opfer und die Geschehnisse (Auf Deutsch)

Bericht des Gedenkdiensts von 2008

Homepage der Gedenkstätte (Auf Italienisch)

Berichterstattung von Mary Toffoletti Romagnoli über die Massaker von Marzabotto von Comitato Regionale per le Onoranze ai Caduti di Marzabotto (Hg.) (deutsche Übersetzung: Gabriella Guidi)

Besetzung, Widerstand und Erinnerung in Italien, 1943-1945 von Bernd Heidenreich, Marzia Gigli, Sönke Neitzel (Hg.) (2010)

von nat und julian

One thought on “Marzabotto – schon wieder vergessen?

  1. Ich bin über die Geschehnisse in Marzabotto tief bestürzt. Was bringt einen Menschen dazu, so etwas anderen Menschen anzutun? Ich ringe nach Worten.

    Si prega di perdonare !
    Uwe Korpat ( Deutschland)

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